BLOG: Fachkräfte Südniedersachsen

#31 Herausforderungen einer (künftigen) Zukunftsregion

veröffentlicht am 14.06.2022; AutorIn: Laura Li Stahr und Rico Krieger

Farbenkasten

Wenn sich der Nebel lichtet, sieht der Wanderer endlich sein Ziel (Anlehnung an Caspar David Friedich)

Südniedersachsen bietet für Fachkräfte alles, was eine erfolgreiche Region ausmacht: attraktive Arbeitgeber, eine renommierte Hochschul- und Forschungslandschaft, wachsende Innovations- und Gründungsdynamik sowie ein familienfreundliches Umfeld – alles in der Mitte Deutschlands. Die Region ist geprägt von ihrer Vielfalt: Sie ist Heimat für viele kleine und mittlere Unternehmen – vom traditionsreichen Handwerk, über den familiengeführten Mittelstand bis hin zu Hidden Champions und Weltmarktführern. Seit 2021 haben zwei DAX-Unternehmen in Südniedersachsen ihren Hauptsitz, die Life Science-Branche keimt am Standort Göttingen auf und Innovations- und Technologienetzwerke sorgen für die Verknüpfung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Wer neben der renommierten Bildungs- und Wissenschaftslandschaft (u.a. vier Hochschulen) seinen Ausgleich sucht, findet ihn in der abwechslungsreichen Natur und vielen Freizeitangeboten an Weser und Leine, zwischen Harz und Solling.

Trotz dieser Vorzüge stehen ländliche Räume – und Südniedersachsen ist unbestritten ein solcher – im Vergleich zu urbanen nicht nur aufgrund ihrer Strukturen vor besonderen Herausforderungen. Bereits vor nicht einmal 10 Jahren war von Politik und Presse zu lesen, Südniedersachsen kennzeichne eine „überdurchschnittliche starke Betroffenheit von den negativen Begleiterscheinungen des demografischen Wandels“, es habe eine „große räumliche Distanz zu dynamischen Wachstumszentren„, sei struktur- und wirtschaftsschwach, „wenig innovativ„.

Zwischen vermeintlicher Regionalromantik und wiederkehrender Fundamentalkritik an den Standortbedingungen lohnt ein kurzer Blick auf jene allgemeinen Herausforderungen, vor denen Südniedersachsen mit Blick auf seine Wachstumspotentiale und Entwicklungsbedarfe steht. Zuletzt wurde in der Konzeptphase zur Zukunftsregion Südniedersachsen ein Destillat ausgehend von verschiedenen Analysen, Gutachten und Strategiepapieren der letzten drei Jahren sowie einer sechsteiligen Workshop-Reihe im Februar und März 2022 gebildet. Es kann hier nur skizziert werden, beinhaltet aber endogene (regionalspezifische-strukturelle Faktoren, z.B. demografische Entwicklung, Flexibilisierung der Standortwahl, Innovations- und Gründungsdynamik) und exogene (äußere Einflussfaktoren, z.B. Klimaschutzziele, Wandel der Arbeitswelt, Strukturwandel) Aspekte.

Auswirkungen des demografischen Wandels

Der demografische Wandel macht auch vor Südniedersachsen keinen Halt. 2020 verzeichnen alle vier Landkreise in Südniedersachsen eine seit 2005 deutlich negative Bevölkerungsentwicklung: Göttingen -5,8 %, Holzminden -9,9 %, Northeim -10,2 %, Goslar -11,1 %. Im Vergleich dazu hatten Niedersachsen (+0,1 %) und das Bundesgebiet (+0,9 %) leichte Zugewinne. Zudem wird eine weiter zunehmende Alterung und ein zahlenmäßiger Rückgang der möglichen Erwerbspersonen prognostiziert. Das nimmt im ländlichen Raum schneller zu als in den städtischen Räumen, weil es junge Menschen in die Zentren zieht. Ein Blick auf aktuelle Daten zur Bevölkerungsstruktur zeigt, dass das Durchschnittsalter 2019 in den Landkreisen Holzminden (46,9 Jahre), Northeim (46,8 Jahre) und Goslar (47,6 Jahre) deutlich über dem Durchschnittsalter Niedersachsens bzw. Deutschlands (ca. 44,2 Jahre) liegt. Lediglich der Landkreis Göttingen zusammen mit dem gleichnamigen Oberzentrum liegen mit 44,5 Jahren nah bei überregionalen Referenzwerten. Werden nun noch die Bildungs-, Familien- und Arbeitsplatzwanderungssalden hinzugezogen, wird deutlich, dass der Landkreis und die Stadt Göttingen wie auch in Teilen Holzminden positive Bildungswanderungssalden aufweisen. Sie profitieren zunächst von den Hochschulstandortorten und verjüngen ihre Bevölkerungsstruktur. Allerdings verlieren sie wieder an jungen Bevölkerungsteilen, denn anzunehmen ist, dass nach Beendigung des akademischen Bildungswegs aus verschiedenen Gründen nicht der Schritt in den lokalen bzw. regionalen Arbeitsmarkt vollzogen wird. Beim Familienwanderungssaldo profitieren die ländlicheren Regionen Südniedersachsens, wenngleich auch nur leicht. Das reicht jedoch nicht aus, um dem demografischen Trend entgegenzuwirken. Mehr noch: der sich bereits vollziehende Renteneintritt der Babyboomer-Generationen verschärft die Situation – gerade im ländlichen Raum – weiter.

Flexibilisierung der Standortwahl von BürgerInnen und Unternehmen

Es herrscht ein Konkurrenzkampf der Unternehmen untereinander um qualifizierte Fachkräfte vor. Entscheidend bei der Standortwahl für ein Unternehmen sind harte und weiche Faktoren wie eine gute Digital-, Wissens- und Bildungsinfrastruktur. Auf der anderen Seite prüfen die BürgerInnen die Begebenheiten vor Ort heute stärker als früher hinsichtlich der Vielfalt von beruflichen und privaten Möglichkeiten und dem Vorhandensein von sozialen Haltekräften. Aspekte wie Mobilität, Gewerbeflächen-Verfügbarkeit, Vernetzung und Bestand von Innovationsräumen und Coworking-Spaces spielen hier eine große Rolle. Zudem fallen Aspekte wie Gesundheitsversorgung, Betreuungs- und Freizeitangebote ins Gewicht für die ebenfalls Lösungen gefunden werden müssen. Durch die zunehmenden Flexibilisierungsmöglichkeiten von Arbeiten und Wohnen hat der Wettbewerbsdruck auf viele Regionen – wie auch Südniedersachsen – zugenommen. Südniedersachsen ist in diesem Wettbewerb bislang nicht ausreichend positioniert, um seine Stärken sichtbarer zu transportieren und attraktiv für zuziehende Fachkräfte oder Unternehmen zu sein. Wenn die vorhandenen Stärken nach innen wie außen besser bekannt sind und durch gezielte regionale Entwicklungsmaßnahmen ausgebaut werden, stärkt dies den Standort sowie die Halte- und Bindekräfte für Personen und Unternehmen.

Strukturwandel des Arbeitsmarktes

Insbesondere die kleinen uwnd mittleren Unternehmen – die den Großteil der Wirtschaftsstruktur Südniedersachsens prägen – haben Schwierigkeiten flexibel und adäquat auf die doppelte Transformation zu reagieren. Seit 2013 steigt durch die Digitalisierung das Substituierbarkeitspotenzial von Berufen im Agenturbezirk Göttingen so weit, als dass im Jahr 2019 schon 32,9 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von einer möglichen Substitution ihrer Berufe betroffen sind, im Landkreis Northeim sogar 35,9 %. Dies muss nicht zwingend mit Beschäftigungsverlusten einher gehen, sofern dem hohen Qualifizierungsbedarf nachgekommen wird. Zunehmend digitalisierte Prozesse sowie Informations- und Lernmethoden stellen deshalb heute und zukünftig immer neue Herausforderungen an die persönliche Kompetenz im Umgang mit digitalen Angeboten. Hierbei geraten auch Themen wie Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe in den Fokus. Während viele leichte Tätigkeiten durch Digitalisierung ersetzt werden können, müssen sich nahezu alle Berufe darauf einstellen, in hohem Grad mit digitalen Assistenzsystemen zu arbeiten und Schnittstellen bedienen zu können. Auch die Dekarbonisierung führt gleichermaßen dazu, dass sich Qualifikationsanforderungen in Berufen überholen und verändern. Die mittelfristige Einhaltung von Klimaschutzzielen erfordert (ausreichend vorhandene) MINT-Fachkräfte und unternehmerische Innovationstätigkeiten im Hinblick auf Geschäftsmodelle, Kundengruppen oder Lieferketten, die anzupassen bzw. zu entwickeln sind.

Nationaler und globaler Wettlauf um Innovationen und (Zukunfts-)Technologien

Die regionale Innovationskraft und Umsetzung in der Praxis müssen erhöht werden. Nur so kann Südniedersachsen im nationalen und internationalen Wettbewerb um Innovationen und zukunftsträchtigen Innovationen bestehen.  Auf die Gesamtheit der KMU der Region bezogen, ist die regionale Forschungs- und Entwicklungsintensität ausbaufähig und Niedersachsen aufgrund der kleinteiligen Wirtschaftsstruktur davon abhängig, dass KMU sich intensiver in Innovationsprozesse einbringen. Dafür sind Cluster und Netzwerke hilfreich, vorausgesetzt, dass sie eine auf KMU ausgerichtete Strategie verfolgen und nicht nur Großunternehmen adressieren. Die Netzwerke in Südniedersachsen sind zumeist in ihren speziellen Themenbereichen gut aufgestellt, Quervernetzungen oder eine die gesamte Region umfassende Aufstellung fehlen jedoch häufig. Dabei sollten für KMU mit und ohne eigene Forschungs- und Entwicklungsangebote Innovationskooperationen mit Forschungseinrichtungen angeboten werden. Das bedarf geeigneter regionaler Netzwerke, die allerdings nicht immer und noch nicht gleichmäßig stark über Counterparts in Forschungseinrichtungen bzw. Kontakte in die Forschung verfügen.

Stärkung der Innovations- und Gründungsdynamik durch verbesserte Rahmenbedingungen

Ausgründungen aus Unternehmen und aus Forschungseinrichtungen, die eine skalierbare Unternehmensidee verfolgen, haben das Potenzial, sich zu einem wertvollen regionalen Arbeitgeber zu entwickeln. In der Region mangelt es jedoch an der Verfügbarkeit von Kapital und InvestorInnen, die Standortattraktivität für Talente von außerhalb und die Kooperationsmöglichkeiten mit etablierten Unternehmen.

Neben dem Fokus auf Start-ups und Innovation gilt es auch das allgemeine Gründungsgeschehen innerhalb der Region zu stärken. Ein allumfassendes Gründungsökosystem wird auf lange Sicht nur durch ein gut koordiniertes Zusammenspiel zwischen innovativen Start-ups und niedrigschwelligen Gründungen gelingen. So kann (Social, Inclusive, Sustainable) Entrepreneurship Education kann nicht nur an Hochschulen interessierte, junge Menschen frühzeitig mit dem Gründungsökosystem in Kontakt zu bringen.

Dieses gilt es auch im ländlichen Raum zu entfalten. Um zur Profilierung Südniedersachsens als Gründungs- und Start-up-Region beizutragen, sollten thematische Schwerpunktsetzungen und Kompetenzvermittlungen etwa in den Bereichen grüne- und soziale Gründungen oder Ernährung geprüft werden.

Soziale Ungleichheit, Integration und Inklusion, Teilhabe am Arbeitsleben, Daseinsvorsorge im ländlichen Raum

Äußere Einflüsse wie die COVID-Pandemie, akute Krisen, gestörte Lieferketten und Inflation erfordern Maßnahmen zur Verbesserung der regionalen Widerstandsfähigkeit, zumal sie soziale Ungleichheiten verstärken. Eine bessere Teilhabe am Arbeitsleben durch Integration und Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen in Unternehmen aber auch Weiterbildung werden zukünftig eine stärkere Rolle spielen müssen.

Die demografische Entwicklung lässt mutmaßen, dass die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und die Erschließung des Arbeitskräftereservoirs der bisher nicht oder nur teilweise berufstätigen Frauen für sich genommen nicht zu einer Trendwende führen werden. Um dem Fachkräfte- und Personalmangel zu entgegnen, sind umfangreiche Gruppen der Gesellschaft mit stark eingeschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt systematisch in den Blick zu nehmen. Z.B. gestaltet sich die Eingliederung von Menschen mit Beeinträchtigungen auf dem ersten Arbeitsmarkt häufig schwierig. Südniedersachsen hat hierzu keine einheitliche, auf Bedarfe ausgerichtetes Datenlage oder Lösungskonzepte. Auf der einen Seite fehlen Arbeitsplätze, die angemessen auf die Art und Schwere der Behinderung angepasst sind, auf der anderen Seite sind sich Unternehmen und Betriebe oft im Unklaren über den Mehrwert, aber auch über die Herausforderungen. Es mangelt an Beratung für ArbeitgeberInnen, sowie an einer besseren Verzahnung mit den Behörden.

Bei der regionalen Daseinsvorsorge geht es für Südniedersachsen um den Erhalt gleichwertiger Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land. Im ländlichen Raum müssen attraktive, lebendige Orte gestärkt werden und erhalten bleiben; sie haben nicht nur eine hohe Lebensqualität, sondern vermögen auch geringe Wohnraumkapazitäten der Städte auszugleichen. Eine weitere Problematik sind die ausschließlichen Regelbetreuungsangebote für Kinder im Krippen- und Kita-Alter. Hier bedarf es Anpassungsmaßnahmen vor dem Hintergrund von Schicht-, Wechselarbeit oder ähnlichen Modellen. Bei jeglichen Angeboten spielt das Thema Mobilität insbesondere in ländlichen Gebieten eine große Rolle. Dort ist die Infrastruktur noch nicht ausgereift genug, wodurch es an Erreichbarkeit der Angebote mangelt.

Knappheit natürlicher Ressourcen und Klimawandel

Natürlich vorhandene Ressourcen sind endlich, der Klimawandel verändert Ökosysteme und gefährdet die Biodiversität. Das stärker werdende ökologische Bewusstsein, die Forderung nach verantwortungsvollem Umgang mit Ressourcen, und das Bestreben, individuell nachhaltiger zu leben, findet zunehmend im politischen und wirtschaftlichen Handeln Ausdruck. Klimaschutz und Ressourcenschonung sind daher unabdingbare Aspekte für die regionale Entwicklung. Handlungsfelder sind dabei Bauen und Sanieren, Arbeiten und Wirtschaften, Energieerzeugung und -nutzung, Trinkwasser- und Abwasserversorgung, Mobilität sowie die Sensibilisierung von BürgerInnen.

Region im Wandel – der Wandel erfordert Region

Südniedersachsen befindet sich im Spannungsfeld der oben genannten Herausforderungen und der Strukturwandel ist ein steter Weggefährte. Wesentlich bei jeder Herausforderung ist die gemeinsame Bereitschaft sich mit Lösungsansätzen zu befassen, die für alle Beteiligten keinen Nachteil bringt, sondern jeweils den bestmöglichen Vorteil verspricht. Die Region hat sich gemeinsam auf den Weg gemacht, die Zukunft zu gestalten. Zentrale Messwerte werden neben Maßnahmen zur Eindämmung des Fachkräftemangels und zur Reaktion auf die Digitalisierung hinsichtlich Weiterbildungsangeboten für bereits Beschäftigte und Anpassungen in den Schulungsrichtlinien auch diejenigen Maßnahmen sein, die auf Ressourcenknappheit, Krisen und den Klimawandel abzielen.

Ansprechpartner:

Rico Krieger
Bereichsleitung Regionale Entwicklung und Marketing
T. 0551/270713-34
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